20. Mai 2024
Heute: Der Fietsenraubsänger. Phylloscopus bicyclica.
Der Fietsenraubsänger ist ein heimtückischer Geselle. Immer auf der Suche nach unabgeschlossenen Zweirädern, treibt er sich im Gebüsch und in allerhand dunklen Ecken herum, und probiert, wenn keiner hinguckt, auch schon mal mit seinem kurzen, pinzettenartigen Schnabel, ein Zahlenschloss zu knacken.
Wenn er ein Fahrradschloss nicht knacken kann, dann macht er das Rad kaputt.
Erst beginnt er mit einem vorsichtigen Picken nach dem Vorderreifen, was meist nichts anderes zur Folge hat, als dass der Fietsenraubsänger Schnabelschmerzen bekommt, wenn der Reifen prall aufgepumpt war. Sobald der Schnabelschmerz nach einer halben Stunde wieder abgeklungen ist, hackt er sehr viel energischer zu, was ihn eine Stunde außer Gefecht setzt.
Wenn er danach auf dem Rücken liegend wieder aus seiner Ohnmacht aufwacht, dann beginnt es in dem 20 Gramm schweren Vögelchen regelrecht zu gären. Als erstes Mal kackt er vor Wut auf den Sattel, und dann zieht er sich zur Beratung mit Seinen Finsteren Kräften zurück.
Sollte dies ein Tag sein, auf den eine Vollmondnacht folgt, dann sieht es für das Zweirad ziemlich übel aus…
… denn der kleine, harmlos gelbliche Fietsenraubsänger, der einen unvoreingenommenen Beobachter eher an an einen winzigen, scheuen Singvogel erinnert, von dem man mehr hört als sieht – einige seiner engsten Verwandten sind zum Beispiel der Waldlaubsänger, der die Bäume im Frühjahr wieder grün singt, und der Ziepzalp, der die Mädchen an den Haaren zieht…
… also, dieser kleine gelbliche 20-Gramm-Macho, der verwandelt sich im Falle des Zusammentreffens von vorangegangener Provokation und Vollmond leider in eine unglaublich wuchtige, aber ebenso gelbliche Planierraupe.
Er bezieht zu seinem Schadwerk des Nachts Position auf halber Höhe des Vorderrades, und sobald ihn ein Mondstrahl direkt trifft – ZAMPF, KRACH! – Planierraupe, Vorderrad beugt sich der Gewalt, Wolke vor Mond, FLUFFIDI! – wieder winziger Vogel, der sich dann auf halber Höhe auf’s Hinterrad setzt und erneut auf einen Mondstrahl wartet.
Wenn ein solcher Fietsen-Raubsänger besonders schlecht gelaunt ist, dann kann er das auch schon mal die ganze Nacht hindurch mit Hunderten von Zweirädern treiben, egal ob abgeschlossen oder nicht. Ganz anders ist natürlich die Lage, wenn kein Vollmond ist. In diesem Fall sitzt der rasend wütende Fietsenraubsänger einfach nur so auf halber Höhe auf dem Vorderrad und piept ab und zu seinen recht possierlich klingenden Wut-Laut vor sich hin. In diesen Fällen wird er ob seines feinen Stimmchens für gewöhnlich mit einem nächtlichen Goldhähnchen verwechselt.
Sollte der Fietsenraubsänger auf ein unabgeschlossenes Fahrrad treffen, so schwingt er sich schleunigst auf den Sattel und beginnt lauthals: „Ja wir sind mit’m Radl da“ zu trällern, während er von einem Bein aufs andere hüpft.
Angesichts seiner kurzen Füße kommt er nicht an die Pedale heran, und somit auch nicht vom Fleck – das scheint ihn aber nicht weiter zu stören. Hier scheint es wohl um das Prinzip der Klaubarkeit des Zweirades zu gehen.
Aus diesem Grunde stellen verständnisvolle Vogelschützer auch mittlerweile an allen möglichen Ecken einer Fietsenraubsänger-besiedelten Stadt sogenannte Unlock-Fahrräder auf, auf denen sich die kleinen Vögelchen wie der Boss fühlen können. Dies reduziert das Plattstampfen der anderen Zweiräder in der Stadt deutlich.